Hannah (20) leidet seit ihrem zehnten Lebensjahr unter einer Zwangsstörung. Mit ihrer Geschichte möchte sie Eltern und Kindern Mut machen, die Krankheit rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Liebe Hannah, vielen Dank für deinen Mut, uns über deine Zwangsstörung zu berichten. Wie hat sich die Krankheit bei dir bemerkbar gemacht?

Bei mir hat es mit zehn Jahren angefangen. Da kamen sehr heftige anhaltende Angstgedanken und -gefühle auf und außerdem habe ich stark gegrübelt. Das ging über Wochen und Monate so. Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden. Aber kein Gespräch und kein Beruhigungsversuch waren genug. Wir haben uns hilflos gefühlt und wussten nicht, was wir machen sollten. Dann ist es plötzlich von alleine verschwunden. Das passiert häufig bei Zwangsstörungen – sie gehören zu den chronischen psychischen Erkrankungen.

Chronisch heißt, es ist bei dir wiedergekommen?

Genau, und zwar heftiger als zuvor. Da war ich 16 Jahre alt. Damals habe ich gemerkt, dass ich Hilfe brauche. Da es aber mit der Zeit wieder besser wurde, habe ich zu der Zeit den Schritt mit der Therapie noch nicht gemacht. Aber die Krankheit kam von Zeit zu Zeit in Schüben immer wieder.

Beschreibe bitte einmal: Welche Zwangsstörungen hattest du?

Eine Zwangsstörung gehört zu den Angststörungen. Sie ist charakterisiert durch Zwangsgedanken. Typisch ist dieses „Was-wäre-wenn“-Denken: Was wäre, wenn ich dieses oder jenes Schlimmes tue. Das Schlimme ist meist so heftig, weil es gegen eigene Moralvorstellungen verstößt. Diese Gedanken bleiben dann haften und werden zu Zwangsgedanken – man kann diesen Gedanken nicht loslassen.

Man glaubt, dass man tatsächlich jemanden gefährden könnte, die Tat ausführen würde. Deswegen hat man zum einen ein großes Schamgefühl, weil es ja höchst verwerflich ist, was man denkt. Auf der anderen Seite tut man viel, um diese Angst zu mindern. Einige Betroffene entwickeln physische Zwangshandlungen – wie 20 Mal den Lichtschalter ausmachen. Andere, so wie ich, grübeln extrem viel. Dadurch habe ich mich in Gedanken verstrickt.

Wie stark hat deine Krankheit deinen Alltag beeinträchtigt?

Sehr! Ich war durchweg ängstlich, hatte kein Vertrauen in mich selbst. Ich war nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Durch das permanente Grübeln und Hadern mit den Zwangsgedanken konnte ich nachts nur schwer einschlafen. Das führt zu Erschöpfung, Angespanntheit und auch körperlichen Problemen wie Magenbeschwerden. Meine schulischen Leistungen wurden dagegen kaum beeinträchtigt. Denn wenn ich mich auf das Lernen fokussiert habe, konnte ich die Zwangsgedanken damit verdrängen.

Was hat dir geholfen?

Ich hatte lange Zeit keine Worte für die Gedanken in meinem Kopf. Auch mein Verhalten konnte ich mir nicht erklären – ich wusste ja, dass die Gedanken unlogisch sind. Eines Tages hat es durch einen Instagram-Post bei mir „Klick“ gemacht. Die Beschreibungen und Symptome dort trafen zu 100 Prozent auf mich zu. Das war so eine Erleichterung, denn nun wusste ich, dass das, was ich habe, auch viele andere haben. Und dass man es auch benennen kann. Danach hat es noch über ein Jahr gedauert, bis ich in Therapie gegangen bin. Dort bin ich seit einigen Monaten und es geht mir seitdem deutlich besser.

Das ist schön zu hören! Was genau machst du in der Therapie gegen die Zwangsstörungen?

Die Therapie umfasst mehrere Elemente auf einer ganzheitlichen Ebene. Das sind die wichtigsten Punkte:

  • Zunächst einmal war es schon die Diagnose „Zwangsstörung“ selbst, die mir geholfen hat. Seitdem weiß ich: Es ist eine Krankheit. So wie eine Hautkrankheit oder Darmbeschwerden. Eine Störung, die nichts mit mir als Person oder mit meinem Charakter zu tun hat. Das hat mir dabei geholfen, mich von der Störung abzugrenzen.
  • In den Gesprächen lerne ich, mein Schamgefühl abzubauen. Ich kann über meine Gedanken reden, ich weiß, sie sind Unfug.
  • Ich weiß jetzt, dass meine Gedanken nicht real sind. Diese Gedanken lösen keine Handlungen aus. Denn ich bestimme über meine Handlungen. Dadurch gewinne ich wieder an Selbstvertrauen.
  • Zudem kann ich nun auch um Hilfe bitten. Meine engen Familienmitglieder und engen Freunde wissen Bescheid, das entlastet mich enorm.

Diese systematische und logische Auseinandersetzung mit der Krankheit tut mir gut. Zudem praktiziere ich regelmäßig Achtsamkeitsübungen. Damit kann ich mich – falls das Grübeln wieder anfängt – ins Hier und Jetzt zurückholen. Weil es mir langsam besser geht, liegt mir jetzt sehr viel daran, über Zwangsstörungen gerade auch bei Kindern und Jugendlichen aufzuklären. Denn frühe Hilfe ist wichtig!

Was würdest du Eltern raten, wenn sie bei ihrem Kind Verhaltensänderungen feststellen?

Ich würde aufgrund meiner Krankheitsgeschichte empfehlen, ganz genau hinzuschauen:

  • Ist das Kind extrem ängstlich? Bei mir trat die Ängstlichkeit auch in sicheren Situationen wie zum Beispiel im heimischen Wohnzimmer auf.
  • Sucht das Kind krampfhaft nach Sicherheit? Ich musste zum Beispiel zu einem Thema immer alles ganz genau wissen und habe noch zehn Mal zur Sicherheit nachgefragt.
  • Gibt es äußerlich zwanghafte oder rituelle Handlungen wie zum Beispiel Händewaschen oder Aufräumen nach einem bestimmten System?
  • Vermeidet das Kind plötzlich völlig unverständlich bestimmte Lebensmittel, Gegenstände oder Situationen?
  • Grübelt das Kind viel? Kann es Gedanken nicht loslassen oder hat es die Angst, es könnte etwas Schlimmes tun?

Dann sollte man frühzeitig professionelle Hilfe holen. Hätte ich eher die Diagnose bekommen, wäre mein Leidensweg sicherlich nicht so heftig gewesen. Leider dauert es oft lange, bis man einen Therapieplatz bekommt. Aber es lohnt sich. Ich gehe dort wöchentlich hin und fühle mich besser. Wahrscheinlich wird die Zwangsstörung nie verschwinden. Aber ich weiß, wie ich damit umgehe. Das Wichtigste ist die Erkenntnis: Eine Zwangsstörung ist eine Krankheit und diese Krankheit ist behandelbar!

Liebe Hannah, vielen Dank für deinen Mut und deine Offenheit! Wir wünschen dir weiterhin alles Gute!

Weitere Informationen gibt es beim Verein „Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen“ https://www.zwaenge.de/#

Hinweis: Um die Persönlichkeit der Betroffenen zu schützen, haben wir die Person anonymisiert und ein Symbolfoto gewählt. Hannahs richtiger Name ist unserer Redaktion bekannt.

Foto: Pexels / Liza Summer

Autorin: Kirsten Hemmerde

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